MICHAEL THEURER ZUM BREXIT

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

nach dem wie erwartet knappen Votum zum Brexit diskutieren viele Menschen die Entscheidung der Briten. 

Wir haben unseren Landesvorsitzenden, den Europaparlamentarier Michael Theurer, nach den Konsequenzen gefragt. 

 

Michael Theurer MdEP und FDP-Landesvorsitzender

 

Wieso haben sich die Briten so entschieden? 

Eine knappe, aber eindeutige Mehrheit der Wähler erteilte der EU eine Absage. Die Gründe dafür sind wie immer nicht mono-kausal. Mein Eindruck: es ging weniger um Fakten als um Gefühle. Da ist der befürchtete Kontrollverlust durch Zuwanderung, da ist das Gefühl durch die EU fremdbestimmt und bevormundet zu werden. Die Abstimmung signalisiert aber auch Unzufriedenheit mit Premier Cameron und seiner Regierung in London. Auch waren die Anhänger des „Remain“-Lagers sicherlich nicht perfekt organisiert. Ihre Kampagne setzte vor allem auf die Angst vor den wirtschaftlichen Folgen, doch diese Vermarktung der EU als Zweckehe hat die Wähler nicht vollkommen überzeugt.

Wie geht es mit dem Vereinigten Königreich weiter?

Er ist derzeit überhaupt noch nicht klar, ob die britische Regierung den Antrag nach Artikel 50 des EU-Vertrags tatsächlich stellt und wenn ja, wann.

Es ist unstrittig, dass nach EU-Recht das Vereinigte Königreich diesen Antrag selbst ganz offiziell stellen muss. Erst dann erfolgt das Austrittsverfahren. Im Artikel 50 ist vorgesehen, dass die Verhandlungen binnen 2 Jahren abgeschlossen sein müssen - diese Frist kann jedoch einstimmig vom Rat um weitere 2 Jahre verlängert werden.

Wieso gibt es eine Frist?

Die Befristung soll dem berechtigten Interesse der EU und ihrer Mitgliedsstaaten nach klaren Verhältnissen Rechnung tragen.

Dies bedeutet zweierlei:

Erstens hängt die Frage, ob und wann Großbritannien aus der EU austritt, allein von der innerbritischen Entscheidungsfindung durch Regierung und Parlament ab.

Zweitens besteht für die anderen Mitgliedsstaaten und die EU insgesamt die Gefahr einer jahrelangen Hängepartie.

Genau hierin liegen immense politische und ökonomische Risiken. Denn den Austritt eines Mitgliedsstaates kann die EU verkraften, selbst wenn es sich um ein solch großes und wichtiges Land wie GB handelt. Was die EU jedoch in noch schwereres Fahrwasser führen könnte, wäre eine jahrelange Diskussion über das ob und das wie eines Ausscheidens von Großbritannien: Unsicherheit ist Gift für politische Stabilität und wirtschaftliche Investitionen.

Was tut das Europäische Parlament? 

Wir haben uns natürlich zunächst im Europäischen Parlament darüber Gedanken gemacht und uns die dringende Frage gestellt: was ist das Interesse der EU, ihrer Mitgliedsstaaten und der dort lebenden Menschen? Dies haben wir in einer Resolution zum Ausdruck gebracht, in der die britische Regierung aufgefordert wird, rasch für klare Verhältnisse zu sorgen.

Wie geht es jetzt mit der Europäischen Union weiter? 

Wir nehmen das Referendum sehr ernst. Es besteht die Gefahr, dass in allen Mitgliedsstaaten in der öffentlichen Diskussion die Zweifler und EU-Gegner Auftrieb erhalten. Die EU ist eine Institution mit Stärken und Schwächen. Wir dürfen nicht zulassen, dass das bislang Erreichte kaputtgeredet wird. Niemandem ist gedient, wenn die EU zerfällt.

Die Europäische Union muss jetzt Handlungsfähigkeit beweisen. Notwendig ist die Revitalisierung der Europäischen Idee. Die Kraft der positiven Vision.

Und was ist mit der Kritik?

Die Kritik müssen wir ernst nehmen. Sie muss freilich konkretisiert werden. Unzulänglichkeiten und Dysfunktionalitäten müssen präzise identifiziert, benannt und durch entschlossene Reformen beseitigt werden. Dabei ist es wichtig, auch die Bürger einzubeziehen!

Wie könnte das aussehen?  

Durch einen Bürgerkonvent zum Beispiel. Und durch konkrete Maßnahmen in ausgewählten Bereichen, etwa der inneren Sicherheit. Gerade in letzter Zeit wurde wieder die Notwendigkeit eines wirksamen Schutzes der EU-Grenzen und Aufbaus einer gemeinsamen EU-Grenzschutzpolizei offensichtlich. Perspektivisch brauchen wir eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Schaffung einer Europäischen Armee - die Verteidigungsausgaben der europäischen Staaten werden gerade im Vergleich zur USA extrem ineffizient eingesetzt.

Abschließend brauchen wir auch auf europäischer Ebene entschlossene Terrorismusbekämpfung und Schaffung eines Europäischen Kriminalsamts nach dem Vorbild des amerikanischen FBI oder des deutschen BKA.

Doch für Liberale ist auch klar: Die EU muss groß sein in den großen Dingen. Aus dem Klein-Klein sollte sie sich stärker als bislang heraushalten. Die EU darf sich nicht länger in alle Lebensbereiche regulierend einmischen.

Welche Auswirkungen hat der Brexit auf Baden-Württemberg? 

Baden-Württemberg ist als Exportland besonders auf freien Handel angewiesen. Es hängt also viel davon ab, welche Regelung mit Großbritannien getroffen wird.

Gerade die baden-württembergischen Autobauer sind aber auf freien Handel mit dem Vereinigten Königreich angewiesen, es ist einer der größten Absatzmärkte. Daher ist es natürlich auch in unserem ureigenen Interesse, die Briten bei den Austrittsverhandlungen fair zu behandeln.

Wie würde eine deutsche Regierung mit FDP-Beteiligung jetzt vorgehen? 

Die Freien Demokraten drängen darauf, den Brexit rasch und zu fairen Bedingungen zu vollziehen. Dabei muss klar sein, dass die Zeit der Briten-Rabatte vorbei ist. Andererseits hilft es selbstverständlich ebenso nicht weiter, die Briten als Deserteure zu behandeln, wie dies Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker andeutete. Es gibt genügend Beispiele von Ländern, die engste Verbindungen zur EU pflegen, jedoch kein Mitglied sind: Island, Norwegen, Liechtenstein, die Schweiz. Diese könnten als Orientierung dienen.

Wie ist die Ankündigung Boris Johnsons einzuordnen, nicht als Premier zu kandidieren?

Boris Johnson wurde die Geister, die er rief, nicht mehr los. Wenn sich konservative Politiker mit Fremdenfeinden einlassen, kann dies durchaus vorkommen. Das hat auch die jüngere deutsche Vergangenheit gezeigt. Er hoffte wohl, mit einer kalkulierten knappen Niederlage als Märtyrer auftreten zu können und im Anschluss die Torys hinter sich zu vereinen. Stattdessen hat er leichtfertig sein Land und seine Partei gespalten. Dies sollte für alle handelnden Personen eine Mahnung zum Verantwortungsbewusstsein darstellen.

In diesen turbulenten Zeiten ist natürlich der Informationsbedarf - sowohl bei unseren Mitgliedern als auch in der Bevölkerung - enorm. Angehängt sind daher die Links zu einigen Beiträgen als „Lesetipps“.